G E L E B T E S   L E B E N

Die Reise ist immer vollkommen,

ganz gleich für welchen Weg du dich entscheidest.

 

Eine indianische Geschichte von dem Besticken einer Decke

Quelle: Joseph M. Marshall, Bleib auf deinem Weg, Herder Verlag, 6. Aufl. 2012, S. 43 ff.

 

>>Zwei ältere Frauen saßen zusammen und sprachen über das Leben, das sie gelebt hatten. ... Und als die Frauen sich so unterhielten, kam jeder eine Frage in den Sinn: Wieso konnten die Dinge nicht anders sein? Jede von ihnen wurde von dem Gedanken gequält, dass es ihnen vielleicht möglich gewesen wäre, ein anderes Leben zu führen, und sie es nicht getan hatten. Da sie keine Lösungen finden konnten, beschlossen sie, mit einer sehr alten Frau, die für ihre Weisheit bekannt war, zu sprechen.

 

Die alte Frau hörte ihnen zu, als sie die Geschichten ihres Lebens vortrugen und ihre Fragen über das, was hätte sein können. Sie war nicht überrascht, als sie hörte, wie die Frauen ihr Leben, die erfüllten und die unerfüllten Träume beschrieben. Als sie geendigt hatten, griff sie in einen Schrank und zog zwei gewebte Wolldecken hervor, die beide gleich schlicht und grau waren. Sie reichte beiden Frauen eine Decke. Dann gab sie ihnen Nadeln und viele Spulen mit verschiedenfarbigem Garn.

 

"Verziert eure Decken, jede von euch", wies die alte Frau beide an. "Wenn ihr fertig seid, bringt sie mir, und dann reden wir weiter."

 

Die beiden Frauen waren etwas verwirrt, doch sie taten, worum die alte Frau sie gebeten hatte. Etliche Tage später kamen die beiden Frauen mit ihren Decken zurück. Jede hatte eine komplette Seite ihrer Decke verziert. Die alte Frau war zufrieden.

 

"Lasst uns einen Blick auf eure Decken werfen", sagte sie und hängte sie an die Wand. "Schön, schön", kicherte sie, "ganz so, wie ich es mir vorgestellt hatte. Obgleich ich euch nur anwies, eure Decken zu verzieren, hat doch jede von euch die Geschichte ihres Lebens erzählt."

 

Das hatten sie tatsächlich. Die Decke der ersten Frau zeigte eine Reihe von Szenen, kurze und prägnante Darstellungen ihres Lebens. Zuerst waren da ein Mann und eine Frau, dann Babys und Kinder, die zu Erwachsenen herangewachsen waren und eigene Babys hatten. Ein Mann und eine Frau, wie sie das Land bestellen und die Ernte einbringen; ein Haus, das neben einem Fluss steht, in einem Tal unter dem weiten Himmel. Sie hatte fast jede Farbe der Garnspulen verwandt: kräftige Grün-, strahlende Blau-, feurige Rot-, leuchtende Gelb-, wohltuende Lavendel- und weiche Orangetöne.

 

Die zweite Frau hatte dieselben Farben genommen, doch natürlich sahen ihre Lebensdarstellungen anders aus. Auf ihrer Decke befanden sich Abbildungen von Zügen und Schiffen und Wüstenländern, Gebirgskämmen und großen Städten, von Menschen mit verschiedenen Kleidungsstilen und Tieren in verschiedenen Formen und Größen.

 

"Ihr kamt zu mir und fragtet, ob eure Leben anders hätten aussehen sollen. Ich glaube, ihr habt eure Fragen selbst beantwortet, jede von euch. Euer beider Leben hätte anders aussehen können, wenn ihr andere Entscheidungen getroffen hättet; wenn ihr links statt rechts abgebogen wäret, wenn ihr "nein" statt "ja" gesagt hättet. Wenn das Leben, das ihr geführt habt, untragbar wäre und ihr damit wahrhaft unglücklich wäret, hättet ihr eure Lebensgeschichte so dargestellt, wie ihr wünschtet, dass es hätte sein können. Aber ihr habt sie so dargestellt, wie es war. Ihr hättet eure Geschichten ändern können, aber ihr habt es nicht getan. Jetzt könnt ihr über die Entscheidungen, die ihr von diesem Moment an trefft, nachdenken."  

 

Die zwei Frauen nahmen ihre Decken mit nach Hause, und jede von ihnen fand eine Wand, an der sie sie aufhängen konnte. Jeden Morgen erwachte jede der Frauen und schaute auf ihre Decke und ging mit einem Lächeln in den Tag. Jede Nacht sah jede von ihnen auf ihre Decke und flüsterte ein Dankgebet.<<

 

Und würde jemand diese beiden Frauen besuchen und die Decken betrachten, wäre dieser von den Bildern und Farben wahrscheinlich gefesselt und würde nicht darauf kommen, dass die Decken darunter grau sind. 

 

Quelle: Joseph M. Marshall, Bleib auf deinem Weg, Herder Verlag, 6. Aufl. 2012, S. 43 ff.

Photographien: Dem Buchcover Joseph M. Marshall, Bleib auf deinem Weg, Herder Verlag, 6. Aufl. 2012, entnommen und fototechnisch bearbeitet.