DAS RUFEN DER GEISTER (SPIRITS)


„Schamanismus ist eine spirituelle Technik, schamanische Prozesse spielen sich immer in der Nichtalltäglichen Wirklichkeit ab, wenngleich sie eine Entsprechung in der Alltäglichen Welt haben.“

Quelle: Paul Uccusic, Der Schamane in uns. Schamanismus als neue Selbsterfahrung, Hilfe und Heilung. 1991, Ariston Verlag


Geister sind "zentrale Instanzen im Schamanismus und primäre Quellen von Kraft und Weisheit", von ihnen kommen die "verborgenen Informationen", die unter "Zuhilfenahme der herkömmlichen fünf Sinne und den Instrumentarien der Wissenschaften" nicht verfügbar sind.

Quelle: Roland Urban, www.https://www.shamanicstudies.net/divination-die-kunst-der-weissagung/

 


                                                                                                                                         EXTRAKTIONS-RASSEL (Piranha)

Photographie und Eigentümerin: DIE FREIE SCHAMANIN


"Als Geister sind geistige Prinzipien zu verstehen – immaterielle Wesen, die spezifische Kraft und Qualitäten besitzen. Schamanen und Schamaninnen arbeiten mit ihren persönlichen geistigen Helfern, ihren Verbündeten, vertrauensvoll und effizient zusammen. Die nicht-alltägliche Wirklichkeit wie auch die Geister sind nicht abgekoppelt von unserer üblichen, der alltäglichen Wirklichkeit, sondern Teil dieser. Wie insgesamt die gesamte Natur als belebt und beseelt wahrgenommen wird. Also nicht nur Pflanzen, Bäume oder Tiere sind lebendig und haben Seele, sondern auch Steine, Elemente, Landschaften oder Himmelskörper. Dass das Universum nicht mit dem endet, was wir als Mittlere Welt verstehen (in der wir auch unser alltägliches, physisches Leben führen), verrät ein Blick auf den schamanischen Kosmos: neben der Mittleren Welt gibt es auch noch Obere und Untere Welt."

 

Quelle: The Foundation for Shamanic Studies in Europe, https://www.shamanicstudies.net/was-ist-core-schamanismus/

 


1  |  Geister - Spirits - Ghosts - Ahnengeister

 

Das Wort "Geister" oder "Spirits" ist ein Oberbegriff für spirituelle Wesenheiten im Schamanismus. Geister sind "zentrale Instanzen im Schamanismus und primäre Quellen von Kraft und Weisheit".

 

  • Geister werden auch "Spirits" genannt, damit sind Krafttiere, Tiergeister und Naturgeister sowie persönliche innere Lehrer (sogenannte Führungsgeister, über die jeder Schamane und schamanisch Tätige verfügt) gemeint.

 

  • Davon abzugrenzen sind die Totengeister, auch "Ghosts" (engl.) genannt, welche ganz allgemein die Seelen der Toten meinen.

 

  • Die Totenseelen der schamanischen Ahnen oder der verstorbenen Schamanen hingegen werden "Ahnengeister" oder "Ahnen" genannt. Dieser Begriff wird im "westlichen Verständnis" spirituell Tätiger jedoch auch für verstorbene nicht-schamanische Vorfahren genutzt.   

 


2  |  Das Rufen der Geister 

 

Das Rufen der Geister (Spirits) ist Grundlage und wesentlicher Bestandteil einer schamanischen Sitzung und Heilzeremonie. Das Geisterrufen gibt dem Schamanismus das spezifische Gepräge. Für den Schamanen "hat die ganze Natur eine verborgene, nicht alltägliche Wirklichkeit. Das ist etwas, das man sehen lernt, wenn man dem Weg des Schamanen folgt." (M. Harner). Schamanismus beruht auf dem Umgang mit Geistern und ist von diesem durchdrungen und davon nicht zu trennen. Schamanismus ohne Geister existiert nicht. 

 

Der Schamane und die Schamanin sind, wie die Literatur treffend zusammenfasst, "Wanderer zwischen den Welten" und "Mittler zwischen den Welten", bewegen sich also zwischen der Menschen- und der Geisterwelt und bemühen sich um die Balance zwischen beiden.

 

Die Heil-Geister werden bereits zu Beginn einer Schamanischen Zeremonie mit dem Eröffnen des Heiligen Raumes gerufen. Der Schamane spricht die Heil-Geister und besonderen Kräfte von Mutter Erde und Vater Himmel und der Gestirne an, er benennt sie und ehrt und würdigt sie damit. Er lädt sie zusammen mit den Wächtern und den besonderen Kräften der Himmelsrichtungen ein, mit in den Heiligen Raum zu treten und an der Zeremonie teilzuhaben. Der Schamane bittet damit auch um den Schutz für die Anwesenden und um das Geschenk heilender Energien durch die Heiligen Kräfte. Der Schamane ruft seinen persönlichen Schutzgeist (Ahnengeist, der  den Schamanen ausgewählt hat) und seine Helfer- oder Hilfsgeister (die der Schamane von seinem Schutzgeist empfangen hat) an und bittet sie ebenfalls um ihre Teilnahme. Er ruft die heilenden Kräfte der Pflanzen und Steine an. Spirits sind schon immer die Verbündeten der Schamanen.

 

Rasseln und Trommeln wecken die Aufmerksamkeit der spirituellen Mächte. Ausgewählte Pfeiftöne, Wispern, Rascheln, duftende Räucheropfer sowie rituelle Tanzbewegungen unterstützen und verstärken das Rufen und veranlassen die Spirits, gerne in den Kreis des Heiligen Raumes zu kommen. Aber auch das stille Sitzen und die kraftvolle innere Anrufung der Heil-Spirits durch den Schamanen/ die Schamanin veranlassen diese, zu ihm/ zu ihr zu kommen. 

 

Der Schamane knüpft unablässig an seinem spirituellen Netzwerk. Je größer und stärker dieses Netzwerk ist, desto weitreichender sind seine ihm von den Geistern verliehenen schamanischen Fähigkeiten, und desto profunder und verlässlicher ist seine Arbeit mit und am Klienten. 

 

Bereits bei der Eröffnung des Heiligen Raumes und dem Rufen der Geister kommt es vor, dass die Spirits dem Schamanen nützliche Hinweise zu den spezifischen Themenfeldern des Klienten geben. In der Regel ist es aber so, dass sich Schamanen bereits vor dem Eintreffen des Klienten mit den Geistern in Verbindung setzen, diese befragen und von ihnen erste Anleitungen für die anstehende Sitzung erhält. Oftmals haben Schamanen Vorbereitungen für die Rituale getroffen, die dem Klienten in seiner Situation helfen werden. In der schamanischen Sitzung selbst tritt dann das Wissen um die anzuwendenden Rituale klar hervor.

 

Anmerkung der Verfasserin:

Es ist bei der Nennung der männlichen Form (der Schamane) gleichermaßen die weibliche Form (die Schamanin) gemeint. Die regelmäßige Aufnahme der männlichen Form dient lediglich dazu, eine Überfrachtung der Sätze zu vermeiden.

 


Photographien: DIE FREIE SCHAMANIN

        Eine Felsenblume                  Kraftobjekt: Der Geisterrufer          Öffnung in die Untere Welt       Die Schamanische Pferdetrommel             Pferdekopf-Stein

             Höhle 2019                                         2012                                              Höhle 2019                                          2016                                                 2023

  

Der Geisterrufer, ein aus Hölzern, zartem Zweigwerk, Samenkapseln und Federn gefertigtes Instrument, das feinste Energien im Raum aufnimmt und übersetzt; wird zum Rufen der Geister und Auffinden verborgener oder verloren gegangener Informationen hinzugezogen. 

 


3 |  Was Geister sind: "Manifestationen der universellen Kraft"

 

Wir sind umgeben von universeller Kraft, die allem Sein seine bestimmte Form gibt. Geister sind, wie Carlo Zumstein es nennt, Manifestationen dieser universellen Kraft.

 

Durch die Geister (Spirits) ist es möglich, mit der universellen Kraft in Verbindung zu treten und mit ihr zu kommunizieren. Durch ihre spezielle Ausbildung und die darin erfahrenen Einweihungen haben Schamanen Zugang zu der Kraft erhalten (schamanische Akkreditierung). Im Rahmen der Schamanischen Sitzung können Schamane und Klient dieser Kraft auf seelischer und körperlicher Ebene begegnen, sie aufnehmen, an ihr teilhaben.

 

Mögliche „Begegnungsformen mit der universellen Kraft“ (Carlo Zumstein) sind die Krafttiere, Ahnen, Führungsgeister, Pflanzen- und Elementargeister, also spirituelle Wesenskräfte der Natur, die dem Menschen hilfreich zur Seite stehen.

 

Mit dem Erscheinen der Spirits und den besonderen Energien, die sie mitbringen, kann sich während der schamanischen Sitzung und Heilzeremonie auch die Atmosphäre des Raumes verändern. Es kann zu einer Verdichtung der Raum-Atmosphäre kommen, auch das persönliche Körperempfinden kann sich verändern, man mag sich von etwas sanft berührt fühlen, Wärme und Schwere erleben sowie zarte Luftbewegungen. Akustische Sensationen oder Lichteffekte in Heilzeremonien sind nicht selten. Der Körper kann mit seinen eigenen Sensoren das Herannahen einer besonderen, wärmenden und den Organismus positiv unterstützenden Heilenergie erspüren und aufnehmen.

 

Auch wenn der Klient möglicherweise das erste Mal mit einer schamanischen Umgebung in Berührung kommt und vielleicht zunächst den Eindruck hat, nichts Wesentliches wahrnehmen zu können, zeigt die Erfahrung doch, dass die Spirits immer wichtige und wertvolle Einsichten und Heilimpulse mit auf den Weg geben; manchmal dauert es einige Tage, bis diese Wirkung entfalten und spürbar werden. Man sollte sich einfach entspannen und sich und den Spirits die Zeit geben, die es braucht.

 

Lit.: Carlo Zumstein, Schamanismus. Begegnungen mit der Kraft, 8. Auflage 2011, Diederichs Verlag München

 


4  |  Die Kommunikation mit den Spirits (Geistern)

 

Die Kommunikation mit den Spirits geschieht während der Sitzung innerhalb des Heiligen Raumes über unterschiedliche Wege, zum Beispiel:

 

 

  • über das Empfangen innerer Bilder (sog. geistiges Sehen)

 

  • Hierzu arbeitet der Schamane an der konsequenten Entwicklung seiner seherischen Fähigkeiten.
  • Es handelt sich nicht um Phantasie, erdachte Bilder oder Tagträume.
  • Das Gehirn kann spezifische Körper-, Seelen- und Gedankenenergien empfangen und in geistige Bilder umsetzen. Diese Bilder werden vor dem inneren Auge sichtbar. Das geistige Sehen muss geübt werden. Die Fähigkeit zum geistigen Sehen kommt der Klienten-Arbeit im Rahmen einer schamanischen Heilzeremonie zugute. Das für den Schamanen sichtbar Gewordene dient als Grundlage für das weitere Vorgehen. Viele Klienten haben ähnliche Eindrücke bei sich selbst und können wichtiges Feedback geben.
  • Der Schamane "sieht" seine ihm erscheinenden geistigen Verbündeten.
  • Dieses Sehen wird wahrscheinlich über das "Dritte Auge" ermöglicht.

 

  • als physisch erlebbarer Kontakt mit der Kraft (universellen Lebenskraft)

 

  • Mit dem Rufen der Spirits kann sich im Heiligen Raum ein Kraftfeld, also verdichtete Energie, bilden oder erscheinen, welche als solche für manche Menschen sogar körperlich spürbar ist.
  • Es kann zu einem physisch erlebten Kontakt mit einem herbeigerufenen Kraft- oder Heilertier kommen. Es gibt nicht wenige Menschen, die diesen Kontakt als beglückend und für sich persönlich als heilend an Leib und Seele erlebt haben bzw. erleben. Dem persönlichen Kraft- oder Heilertier kann jeder Mensch auch in eigenen Krafttierreisen begegnen und und die spezifische Heilkraft erleben; Anleitungen hierfür gibt es in der schamanischen Literatur und bei "Ihrem Schamanen".
  • Universelle Energie ist intelligent und wirkt am Menschen dort, wo es für ihn notwendig und heilsam ist, sie findet immer den richtigen Weg. Sie setzt Impulse für den Selbstheilungsprozess im Menschen (auch erlebbar mit REIKI).
  • Es kann um das Erscheinen dieses Kraftfeldes direkt gebeten werden, aber der Schamane hat nicht immer die Entscheidungshoheit darüber, ob diese Kraft auch in der erbetenen oder erwarteten Form kommt. Die spirituellen Kräfte entscheiden dies zum Wohle des Bittenden selbst.

 


                                                                                                 Rasseln, schlummernd in Fellen

                                                                                                                                    Photographie: DIE FREIE SCHAMANIN

 


 

Das Zuhause des Schamanen

 

Von den Tschuktschen in Sibirien wird ein Schamanen-Gedicht überliefert.

Hier ein Auszug* daraus

 

 

 

 Alles, was ist, ist lebendig.

Leise schaukelt die Laterne,

die Wände dieser Hütte haben Zungen,

sogar die Schale hat ihre eigene wahre Heimat,

in den Beuteln schlafen Felle,

durchwachten schwatzend die ganze Nacht ...

 

 

 

*aus: Michael Harner, Der Weg des Schamanen

 

 


 

5  |  Die Geister von Tuwa

In Tuwa lebt das zahlenmäßig kleine Turkvolk,„die Tuwiner, beiderseits der Grenze zwischen Sibirien und Mongolei, vom Altai-Gebirge bis westlich des Baikalsees. Sie leben heute auf den Territorien von drei Staaten: in der Russischen Föderation (Südsibirien), in der Nord- und Nordwest-Mongolei und im Altaigebirge Chinas (Zentralasien). … Über die Hälfte der südsibirischen Tuwiner lebt auf dem Land in Dörfern oder betreut als Nomaden ihre Herden in Steppe und Taiga. … Ein Großteil der heutigen Tuwiner in Südsibirien spricht als Muttersprache die tuwinische Sprache (tuw.: tyva dyl), eine Turksprache, die zur altaischen Sprachfamilie gehört." (Quelle: Wikipedia zu: "Tuwa")

Anett C. Oelschlägel hat in ihrem Buch „Der Taigageist“ Tuwinische Sagen gesammelt, „die von tatsächlichen oder mögliche Ereignissen sprechen, die von den Erzählern religiös gedeutet werden. … Das Erzählen einer Sage geschieht hier generell aus der Perspektive der spezifisch tuwinischen Varianten des Animismus und des Schamanismus.“

Die Sagen beschreiben das reale Leben der Tuwiner, denn das auch heutige Weltbild der Tuwiner ist „von permanenten Interaktionen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Subjekten“ geprägt. Zu den nichtmenschlichen Subjekten in der Weltsicht der Tuwiner gehören:

  • Himmelskörper, wie Vater Himmel und Mutter Erde, Vater Sonne und Mutter Mond; bestimmte religiös gedeutete Sterne sowie die Herren der Ober- und der Unterwelt. All diese Wesenheiten werden als Götter gedeutet.
  • Daneben gibt es zahlreiche Kategorien von Geistern, von denen die Herrengeister und die Schadensgeister die wichtigsten sind. Diese Geister setzen Regeln und Normen als Handlungsanweisungen für die Menschen fest. „Die wichtigsten Regeln und Normen werden durch die Herrengeister gesetzt, die als die wahren Eigentümer alles Nichtmenschliche in der Welt schützen und als deren „Anwälte“ gegenüber den Menschen auftreten. Sie überwachen das menschliche Handeln und Verhalten. Sie haben die Macht, Norm- und Regelbruch zu bestrafen und achtsame Menschen, die den Regeln der Interaktion folgen, zu belohnen.“ Um diese Weltsicht nachvollziehen zu können, ist es wichtig zu verstehen, dass diese Geister mit Bewusstheit, Willen, Verstand, Vernunft und Intelligenz ausgestattet sind.
  • Es gibt auch noch andere nichtmenschliche Subjekte, die im Gegensatz zu den Geistern keine solchen Eigenschaften besitzen und dennoch in der Welt wirksam sind. Anett Oelschlägel nennt hier: Energien, Landschaften und deren Bestandteile, Gebirge, Täler, Pässe, Quellen und bestimmte Bäume, aber auch Werkzeuge und sonstige Gebrauchsgegenstände.

 

All diese nicht-menschlichen Subjekte besitzen in der Tuwinischen Weltsicht eine Seele, und sie interagieren auf ihre Weise mit dem Menschen. Der Schamane kommuniziert mit diesen bewussten, vernunftbegabten, intelligenten und willentlich handelnden Wesen der Natur, den Geistern, Göttern und den anderen in der Welt handelnden, beseelten Entitäten. Er würdigt und anerkennt die Wirksamkeit der Elemente, der natürlichen Lebensräume und der in ihr befindlichen Tiere, Pflanzen und Steine, die sämtlich eine Seele besitzen, und arbeitet mit ihnen auf vielerlei Weise zusammen.

Oelschlägel bemerkt, dass Schamanen eben auch „Dolmetscher, Botschafter und Schlichter“ sind, die vermittelnd zwischen Menschen und Geistern tätig sind. Sie sind durch ihre Hilfsgeister berufen worden und ihnen ein Leben lang verpflichtet und dienen diesen und den Menschen, indem sie sich für das friedliche Miteinander beider Welten einsetzen. „Schamanen transportieren Botschaften zwischen Geister- und Menschenwelt… Sie treten als Wahrsager, Heiler und Ritualleiter auf.“

 

 


PHOTOGRAPHIE: DIE FREIE SCHAMANIN